Nach
einigen Jahren der Ausbildung im Schulinternat Roe Head schien es, dass
für die drei jungen Brontë-Schwestern Anne, Charlotte und Emily die
schulische Ausbildung abgeschlossen sei und sie langsam Stellungen als
Gouvernanten annehmen könnten.
Mitte
des 19. Jh. lebten in England über 24.000 Frauen in der abhängigen
Position der Gouvernante. Ihre Stellung lag nicht genau definiert
irgendwo zwischen ihren Herrschaften und der Dienerschaft, von der einen
wie von der anderen Gruppe verachtet. Allen drei Schwestern fehlt das
wirkliche Talent zu diesem Beruf, und so halten sie es auch alle drei
nicht lange in ihren jeweiligen Stellen aus.

Die
junge Gouvernante (links) in ihrem Vorstellungsgespräch
Emily
schafft es mit einer Tätigkeit als Musiklehrerin etwas über ein halbes Jahr.
Charlotte
arbeitet zunächst 10 Wochen lang für die Familie Sidgewick, bei der
sie aber mit ihren Zöglingen nicht klar kommt. Am Ende stehen die
Entlassung und ihr Kommentar: "In meinem ganzen Leben war ich noch
nicht so froh, aus einem Haus herauszukommen".
Bei
ihrem nächsten Arbeitgeber, der Familie White, hält Charlotte es ein
Dreivierteljahr aus.
Das
größte Durchhaltevermögen besitzt die jüngste Schwester Anne: Zunächst
scheitert sie allerdings bei der Familie Ingham und wird nach 8 Monaten
entlassen.
Bei
ihrem nächsten Arbeitgeber, den Robinsons, bleibt Anne etwas über vier
Jahre.
Beide
Arbeitsplätze beschreibt Anne später in ihrem stark autobiografischen
Roman Agnes Grey.
Der
Bruder Branwell versucht ebenfalls sein Glück u.a. als Hauslehrer. Auch
er erlebt Misserfolge: Ein halbes Jahr hält er in Ulverston im Lake
Distrikt bei den Postlethwaites durch, wird dann unehrenhaft entlassen.
Bei den Robinsons in Thorp Green, wo auch Anne arbeitet, endet das
Arbeitsverhältnis nach 2 1/2 Jahren mit einem Knall, weil Branwell eine
wie auch immer geartete Beziehung mit der Hausherrin angefangen hat? Wir
wissen es nicht.

Kirche
von Little Ouseburn, Nähe Gutshof "Thorp Green"
Aus
den Beschreibungen ihrer Arbeitsplätze, die von Charlotte und Anne
vorliegen, können wir schließen, dass die Schuld für das Scheitern
nicht allein in der Unfähigkeit der Erzieherinnen begründet liegt.
Traurig
und amüsant zugleich ist die Diskrepanz zwischen Vorstellung über das
Gouvernantendasein und die Realität geschildert in Annes Roman
"Agnes Grey":
"Wie
wunderbar wäre es doch, eine Gouvernante zu sein! In die Welt
hinauszugehen, ein neues Leben anzufangen, selbstständig zu handeln,
meine ungebrauchten Fähigkeiten zu üben, meine unbekannten Kräfte zu
erproben, meinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen ... Und wie
reizend musste es sein, mit der Aufsicht und Erziehung von Kindern
betraut zu werden! ... Die zarten Pflänzchen aufzuziehen und Tag für
Tag mitzuerleben, wie ihre Knospen sich entfalten ... Was immer die
andern auch sagen mochten, ich fühlte mich der Aufgabe ganz und gar
gewachsen ...
Doch
in ihrer ersten Stelle muss Agnes erleben, dass die Dienstherren sie
herablassend und ohne Achtung behandeln, dass die Kinder frech, ohne
jede Bildung sind, mit 7-8 Jahren weder lesen noch schreiben können und
ihr gegenüber dieselbe Geringschätzigkeit zeigen wie ihre Eltern.
Die
Arbeitgeber, bei denen die Brontës arbeiten, gehören zu der
aufstrebenden Klasse des Geldbürgertums wie es die Industrialisierung
hervorbringt. Diese Familien verfügen über viel Reichtum. Sie kaufen
sich alte Herrensitze von verarmten Adligen oder bauen sich schicke
Landhäuser im Stil der Herrenhäuser. Im Gegensatz zu den wirklichen
Adligen besitzen die neuen "Geldadligen" keine traditionellen
Werte und keine Kultur und Bildung. Diese versucht man durch gut
ausgebildete Gouvernanten für seine Kinder einzukaufen.
Agnes
Grey, das "alter ego" Anne Brontës, bekommt als Erzieherin und
Lehrerin von den Eltern sehr widersprüchliche Aufträge: Sie darf die
Kinder nicht tadeln oder zurechtweisen. Sollten die Kinder sich schlecht
benehmen, was sie im Prinzip ständig tun, soll Agnes nicht die Kinder
bestrafen sondern soll die Eltern informieren. Macht sie jedoch eine
negative Bemerkung über das Verhalten der Kinder, wird ihr dieses als
ihr eigener Fehler angelastet. Agnes sitzt so zwischen allen Stühlen
und scheitert in ihrer ersten Stellung. Von den Eltern werde die Kinder
sehr verwöhnt und weitgehend im Laisser-faire-Stil erzogen. In der
Erziehung der Mädchen wird Wert darauf gelegt, dass sie auf ihr Äußeres
bedacht sind und mit Ehrgeiz danach streben, eine gute Partie zu machen.
Bei kleinen Jungs werden Dummheit, Ungezogenheit und Grausamkeit gefördert,
indem sie z.B. für Frechheiten gegenüber der Gouvernante, dem Personal
oder den armen Pächterfamilien gelobt werden. Grausamkeit gegenüber
Tieren gilt bei Jungen als mutig und schneidig.
Im
Roman Agnes Grey ist die schwierigste Person für die Erzieherin der
Onkel der Kinder, der den kleinen Tom in all seinen negativen
Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen bestärkt, indem er darüber
lacht oder den kleinen Jungen sogar lobt.
Dazu
schreibt Agnes treffend und einsichtig: "Die Menschen wissen gar
nicht, wie sehr sie Kindern schaden, wenn sie über ihre Fehler lachen
und als netten Scherz abtun, was ihre wahren Freunde ihnen als höchst
verabscheuungswürdig hinzustellen versuchen."
Dass
so wohlmeinende, ernsthafte Erzieherinnen wie die Brontë-Schwestern hier
versagen müssen, kann man sich vorstellen.
Abschließend
dazu noch einmal Agnes Grey alias Anne Brontë:
"(Die
Erzieherinnentätigkeit ist...) eine schwierigere Arbeit, als sich
vorstellen kann, wer noch nie das Elend erfahren hat, mit der Aufsicht
und Leitung einer widerspenstigen Schar ungezogener, wilder Kinder
betraut zu sein, die trotz äußerster Anstrengungen nicht dazu zu
bewegen sind, ihre Pflicht zu tun; und zugleich die Verantwortung für
ihr Betragen gegenüber einer höheren Macht (den Eltern) zu tragen, die
verlangt, was ohne die Hilfe der größeren Autorität des Vorgesetzten
nicht erreicht werden kann: eine Hilfe, die aus Trägheit oder Furcht,
sich bei der erwähnten widerspenstigen Schar unbeliebt zu machen, von
diesen verweigert wird."
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